Grafik zeigt ein unsymetrisches Polygon
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Karten der Stadt

Seit Jahrtausenden nutzen Menschen Karten, um sich ein Bild von der Welt zu machen. Die Digitalisierung hat auch das Medium Karte verändert. Wir wollten wissen "Wie?" und haben zwei Studien durchgeführt: Zunächst haben wir Menschen gefragt, welche Bedeutung Karten Apps in ihrem Alltag haben, wie sie diese nutzen und was sie eigentlich über Google Maps denken. Anschließend haben wir eine eigene App entwickelt und Menschen gebeten, ihre Heimat einmal anders zu kartographieren. So wurden thematische Routen u.a. zu Straßenkunst, Geschichte, Wasserwegen und Sounds angelegt. Abschließend blicken wir auf Geschichte und Funktionsweise von Google Maps und beschreiben, wie wir mit dieser App "arbeiten", wie wir sie pflegen, aktualisieren, in Stand halten - und wie Google/Alphabet damit Geld verdient.

Die Entwicklung von Medien und Städten ist historisch eng miteinander verbunden. Ob der Bau von Verlagshäusern und Zeitungsdruckerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder die Eröffnung der ersten Kinos; die Vorstellungen von moderner Kultur und Lebensstilen (man denke etwa an Hollywood Produktionen) oder die Ausbildung von Netzwerken, die Formation von Stadtgesellschaften oder – in der jüngeren Vergangenheit – das Auftreten von Hipstern: Architektonisch und städtebaulich, sozial und kulturell haben sich Städte und Medien stets in enger Wechselwirkung entwickelt.
Die Soziologin Adelheid von Saldern hat diesen Umstand aus historischer Perspektive detailliert analysiert und dafür den Begriff der Kohärenzregime geprägt.

Aus diesem vielschichtigen Beziehungsgeflecht haben wir uns für ein Medium interessiert, dass direkten Einfluss auf die Nutzung des städtischen Raums hat: Karten. Seit Jahrhunderten benutzen Menschen Karten, um sich den städtischen Raum anzueignen, sich ihn ihm zu orientieren und zu navigieren. Karten sind zudem ein recht spezielles Medium, dem man im Alltag mehr oder weniger blind vertraut. Anders als Bücher, Zeitungen oder Filme kommunizieren sie keine Meinungen oder streitbare Ansichten; sie zeigen keine emotionalen Stimmungsbilder oder erzählen fiktionale Geschichten. Stadtkarten zeigen, wie die Stadt ist, welche Wege und Straßen es gibt, wo Sehenswürdigkeiten zu finden sind, an welchen Orten sich einkaufen lässt, wo Parks und Spielplätze sind. Sie sind in diesem Sinne wahr, objektiv, unverfälscht…oder?

Wir haben uns gefragt, ob diese Zuschreibungen gerechtfertigt sind. Insbesondere heute, da schätzungsweise 2 Milliarden Menschen auf der gesamten Welt täglich eine einzige Karte nutzen – Google Maps. Google Maps ist zudem nicht nur die am weitesten verbreitete und am häufigsten genutzte Karte der Menschheitsgeschichte, sondern das Produkt des größten digitalen Technologiekonzerns (Alphabet bzw. Google) ever. Ein Konzern, der im Jahr 2020 rund 183 Milliarden US$ Umsatz auswies und sein Geld zu über 90% mit maßgeschneiderter Werbung verdient. Die Karte Googles ist also nicht das Werk ausgebildeter Kartographen, sondern ein zentrales Element dessen, was aus kritischer Perspektive „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) oder „Plattformkapitalismus“ (Nick Srnicek) bezeichnet wird (Was das genau bedeutet, haben wir weiter unten ausgeführt).

Wie neutral, wahr, echt ist also die Google Map? Was zeigt sie und was zeigt sie nicht? Wie nutzen wir Google Maps in unserem Alltag? Und was könnten digitale Karten noch – stellt man mal nicht das Sammeln und Verkaufen von Verhaltensdaten in den Mittelpunkt, sondern konkrete Orten und Menschen?

Diese Themen haben uns umgetrieben und wir haben uns drei Frage gestellt: 1.) Wie nutzen Menschen Google Maps im Alltag? 2.) Was passiert, wenn wir den Prozess der Kartenproduktion auf den Kopf stellen? Wenn wir ihn Einwohnern einer Stadt in die Hand geben und sie bitten, ihre Stadt zu kartographieren und dabei auf die Dinge zu achten, die Ihnen wichtig sind?  3.) Wie funktioniert eigentlich Google Maps? Wie entsteht die Google-Karte und wie wird damit Geld verdient? Und was sagen eigentlich Kartographen zur Google Map bzw. worin unterscheidet sich die Google Karte von ihren historischen Vorgängern?

1.) Wie nutzen Menschen Google Maps im Alltag?

Um diese Frage zu beantworten haben wir insgesamt 20 qualitative Leitfadeninterviews durchgeführt. Bei der Zusammenstellung der Befragten haben wir darauf geachtet, verschiedenen Merkmale (z.B. Geschlecht, Alter) ausgewogen und Eigenschaften kontrastreich (berufliche Tätigkeiten, Affinität zu digitalen Medien, Hobbys) abzudecken. Somit war es uns möglich einerseits allgemeine Rückschlüsse auf die Nutzungspraktiken von Google Maps zu ziehen, andererseits spezifisch und detailliert nachzufragen, etwa wenn die Person die App für spezielle Aktivitäten auf andere, weniger alltägliche Weise nutzt (z.B. um Routen fürs Fahrrad fahren oder Wandern anzulegen).

Wir stellen nun ein paar ausgewählte Ergebnisse der Interviews vor, weitere und detaillierte Informationen erhalten Sie in unseren Publikationen oder auf Nachfrage.

Google Maps als Infrastruktur und Alltagsbegleiter

  • Alle unserer Interviewten gaben an, Google Maps regelmäßig über das Smartphone (instantan, unterwegs) oder den Desktopcomputer (zu Planungszwecken) zu nutzen. Es ist zweifelsohne die Standardkarte. Einige wenige Interviewten gaben an auch andere Karten-Apps heruntergeladen und benutzt zu haben. Gründe hierfür sind stets sehr konkrete Tätigkeiten, Hobbys oder nicht alltägliche Unternehmungen wie Motorrad fahren, campen oder wandern gehen.
  • Am häufigsten wurde dabei die Navigationsfunktion genannt, wobei Aktualität der Routenplanung (Straßensperrungen, Umleitungen) und die Einbettung von Verkehrsinformationen in Echtzeit (Stau) besonders positiv bewertet wurden. Auch die Möglichkeit unterschiedliche Beförderungsmöglichkeiten miteinander zu vergleichen (Zeit und Preis) wurde als positiver Aspekt oftmals direkt angesprochen.
  • Positiv herausgehoben wurde von fast allen Interviewten die Einbettung von weiteren Informationen in die Karte, explizit sind beständig Öffnungszeiten, Bewertungen und Homepagelinks genannt wurde.
  • 3 unserer 20 Interviewpartner*innen sahen die Monopolstellung Googles kritisch, allerdings v.a. für Händler, Shops und Dienstleistungsanbieter, weil diese für prominente Sichtbarkeit bezahlen müssten.
  • Die vorherrschende Rationalität der Nutzung wurde als Sicherheit und (Informations-)Kontrolle bezeichnet. Durch die Verwendung der App komme man so schnell und einfach wie möglich von A nach B; alternative Routen und Beförderungsmöglichkeiten werden angezeigt und dann individuell bewusst ausgewählt oder verworfen; alle relevanten Informationen seien vorhanden, um eigene Entscheidungen treffen zu können.

Ganz allgemein lässt sich zusammenfassen: Google Maps ist mit einer Vielzahl von Tätigkeiten verwoben, wobei neben der Leistungsfähigkeit der Navigationsfunktion (insbesondere Aktualität) insbesondere der Reichtum an Informationen und die Einfachheit des Zugriffs auf diese herausgestellt wurden.

Der Aspekt der Alltagsdurchdringung ist dabei wenig überraschend, da er zwar nur selten empirisch konkret analysiert wurde – es also recht wenige Studien gibt, die beschreiben wie Menschen Google Maps nutzen – im Zusammenhang mit eher kritischen Arbeiten zu Plattformökonomie oder digitalem Überwachungskapitalismus allerdings oftmals angenommen wird.

Besonders interessant war für uns der Zusammenhang von Informationsfülle – also die enge Verwobenheit von Google Maps mit dem kommerziellen Internet – und (vermeintlicher) Entscheidungsmacht. Auf die ein oder andere Weise gelangten alle unsere Interviewten zu dem Punkt, dass der entscheidende (Mehr-)Wert der Google Karte darin besteht gute, verlässliche Entscheidungen treffen zu können, weil man rundum informiert sei. Nicht thematisiert wurde in diesem Zusammenhang allerdings, dass auch diese Informationen nicht neutral und ungefiltert sind. Es wird also kaum hinterfragt, aus welchem Informationspool man auswählt und wie dieser konstruiert ist. Oder anders: Die Google Karte bietet eine Reihe von Möglichkeiten zur Individualisierung von Inhalten, zum Filtern von Informationen und Orten. Aber auch diese Inhalte und Funktionalitäten sind begrenzt. Der Möglichkeits- bzw. Entscheidungspielraum, ergibt sich aus dem von Google gefilterten und editierten Informationen. Nun reicht allerdings schon ein flüchtiger Blick auf die Karte der eigenen Heimatstadt um zu erkennen, dass es räumliches Wissen gibt, dass in Google Maps nicht enthalten ist und damit auch nicht zur Wahl steht. Von diesem Punkt aus haben wir weitergeforscht.

2.) Alternative Karten: Wie Augsburger*innen ihre Stadt kartographieren

Der zentrale Befund unserer Interviews war zugleich der am wenigsten überraschende: Google Maps ist fester Bestandteil des Alltags, es ist DAS Kartenmedium, dessen Nutzung im Alltag Routine und Selbstverständlichkeit. Ein zentrales Argument hierfür besteht in der gefühlten Entscheidungsmacht, Souveränität und Sicherheit, die sich aus der eigenen Wahl, der eigenen Entscheidung ergibt. Die Frage ist nur auf Basis welcher Informationen man wählen kann. Und hier liegt das Problem: Google Maps ist nicht irgendeine neutrale Karte, sondern ein Produkt mit dem Google/Alphabet Geld verdient – wie das funktioniert und warum das nicht in jedem Fall positiv ist, führen wir weiter unten mit Hilfe der Begriffe Infrastruktur, Plattform- und Überwachungskapitalismus aus. Eine Konsequenz ist, dass die Stadt bei Google Maps deutlich konsumorientiert dargestellt ist. Je nach Nutzer*innenprofil und je nach Zoomlevel erscheinen gerade Innenstädte mitunter als riesige Einkaufs- und Dienstleistungszentren. Der städtische Raum ist allerdings sehr viel mehr als eine Ansammlung von Läden, Restaurants, Frisören, Ärzten und so weiter. Er hat einen eigenen Charakter, eine eigene Geschichte; hier treffen ganz unterschiedliche Akteure aufeinander, die unterschiedliche Ziele, Bedürfnisse, Probleme und damit Lebenswelten haben.

 

Wir haben genau diese Eigenheiten, dieses räumlich konkrete und charakteristische Stadt-Wissen in den Mittelpunkt gestellt und eine App entwickelt, mit der Menschen dies entsprechen ihrer Lebenswelten tun können. Allerdings ist es allein mit der Technik und deren Möglichkeiten nicht getan. Denn gerade, wenn Dinge routiniert benutzt werden ist es nicht so einfach sie plötzlich anders zu denken und zu nutzen. Wir haben den Teilnehmer*innen unserer Studie deshalb die schon recht alte digitale Karte von Bruno Latour und Emilie Hermant „Paris Invisible City“ gezeigt. Nach einigem Zurechtfinden und Stöbern wurde dann diskutiert, welches Wissen und welche Aspekte charakteristisch für Augsburg sind. Bisher haben wir 6 Themen gefunden:

Religion, Geschichte, Sounds, Straßenkunst, Unsichtbares Augsburg und Wasser.

Wir laden Sie herzlich dazu ein, unsere Karten kennenzulernen, mit ihr die Stadt einmal anders zu erkunden oder Ihre eigene Route für Ihre eigene Stadt anzulegen. Unsere App können Sie gerne hier testen https://hcai.eu/digista-db/ oder Google-Playstore herunterladen. Sollten Sie Fragen haben, melden Sie sich.

3.) Was sind Karten und wie funktioniert Google Maps?

Bevor wir zusammentragen, was wir über den Technologiekonzern, seine Funktionsweise und seinen Verkaufsschlager Google Maps wissen, lohnt sich – wie so oft – ein Blick in die Vergangenheit.

Von der Tontafel zum Smartphone: Eine kurze Geschichte der Karte

Die Gestalt von Karten und ihre Herstellung sind von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig: Dem Wissen um geografische, politische oder astronomische Phänomene; den Herstellungstechniken (mathematische Prinzipien, Technologien zur Erfassung räumlicher Information wie Sextanten, Fotografie, Satelliten; Techniken zur Bearbeitung von Materialien wie Schnitzkunst, Litografie oder algorithmische Datenverarbeitung); der Materialität der Karte (Tontafel, Papyrusrolle, bedruckbares Papier oder Smartphones); den geopolitischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die über Anerkennung und Relevanz von Informationen entscheiden (religiöse, geopolitische und ökonomische Mächte, die über Zentrum, Peripherie und Größe sowie Karteninhalte bestimmen). Was Karten zeigen und wie sie beschaffen sind richtet sich also nach Wissens- und Entwicklungsstand sowie Machtverhältnissen. Bis in die 1990er Jahre hinein war es beispielsweise üblich, Stadtkarten auf große Papierbögen zu drucken und zu falten (Wer erinnert sich nicht an die emotional aufgeladene Stimmung im Auto, wenn der/die Beifahrer*in den richtigen Kartenausschnitt gerade nicht aufgeklappt hat oder an einer Kreuzung den falschen Weg weist?). Material und Technik geben hier bereits einiges vor: Eine begrenzte Fläche für Informationen, weil das Papier irgendwann auch zu Ende ist; ein Zwang zur Selektion, weil eine unübersichtliche, allzu vollgepackte Karte unpraktisch ist; eine definierte, unveränderbare Anordnung von Informationen samt festgelegtem Symbol- und Koordinatensystem, Zentrum und Peripherie. Wie diese Karte produziert wurde hatte ebenfalls seine Ordnung: Kartografen beherrschen die mathematischen Prinzipien zur Umrechnung eines dreidimensionalen Raums in eine zweidimensionale Fläche, sie verwenden die regional und zeitlich gebräuchlichen Maßstäbe und Koordinatensysteme. Die Nutzer*innen haben Wissen und Kompetenzen zum Kartenlesen in der Schule gelernt und sie vertrauen auf die „Echtheit“ der Informationen – die Karte ist schließlich vom ADAC oder der Stadtverwaltung. Soweit zu Technologie, Material und Wissen.

Die Sache mit der Macht ist etwas verzwickter und es ist auch erst gut 40 Jahre her, dass die Arbeiten des britischen Historikers und Kartografen John Brian Harley die s.g. „kritische Kartografie“ begründeten und größeren Einfluss auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Karten ausübten. Um es kurz zu machen, unsere Top 5 der „Macht in und durch Karten“ Beispiele:

  • Die in europäischen Schulen gebräuchliche Sternenkarte, mit deren Hilfe Schüler*innen den Sternenhimmel kennenlernen, zeigt das Sternenbild zur Geburt des Sonnenkönigs Ludwig IV von Paris aus.
  • Das Zentrum von Karten – der Mittelpunkt der Welt – ist hart umkämpft: In Europa ist es ein anderes als in Amerika oder Asien, historisch war es lange Zeit Mekka oder Jerusalem.
  • Der Standort der königlichen Sternwarte in Greenwich wird global als Ort des 0 Meridians anerkannt, in einer Zeit der weltweiten Vormachtstellung der Kolonialmacht Großbritannien.
  • Die bis heute weit verbreitete „Mercator Karte“, ursprünglich für Seeexpeditionen gedacht, bildet die Erdoberfläche über eine Zylinderprojektion ab. Insbesondere bei großen Ausschnitten, wie einer Weltkarte, kommt es dabei zu erheblichen Verzerrungen, weil bestimmte Flächen größer und andere kleiner dargestellt werden. Größer dargestellt werden in der Mercator Karte die industrialisierten Länder Europas und Nordamerikas, wesentlich kleiner abgebildet als es den tatsächlichen Ausmaßen entspricht sind v.a. Entwicklungsländer. Um klarzustellen, was „Verkleinerung“ hier bedeutet: Schauen Sie sich bei Gelegenheit mal eine Standard-Weltkarte an (wie sie z.B. in Kinderzimmern hängt) – in der Realität ist Afrika etwa 3x so groß wie die USA und ca. 14x so groß wie Grönland.
  • Bis heute gibt es in Deutschland kein amtlich anerkanntes Symbol für religiöse, aber nicht christliche Bauwerke wie Moscheen oder Synagogen.

Digitale Kartografie

Im Zuge der Digitalisierung hat sich die skizzierte Produktion von Karten grundlegend verändert. Wie bei vielen medientechnischen Innovation ist auch hier der Ursprung im militärisch-politischen Kontext zu finden: Nachdem Luftfahrtfotographien bereits deutlichen Einfluss auf Darstellung und Abbildungen des Raums ausübten, geht mit der Ausstattung des Weltraums durch datenerfassende und -verarbeitende Satelliten seitens der beiden Supermächte im Kalten Krieg eine Transformation der Kartenproduktion einher. Bereits in den 1960er Jahren begann die Ablösung der analogen durch die digitale Kartographie. In der Gegenwart ist es die Verbindung von drei sozio-technischen Systeme, die die Produktion digitaler Karten kennzeichnen: Die Entwicklungen des GIS, einem System computergestützter Erhebung und Analyse von Geodaten, und des GPS, zur satellitengestützten Standortbestimmung entsprechend ausgestatteter technischer Dinge und Menschen. Schließlich die Entwicklung des Internets, insbesondere des Web 2.0, sowie angeschlossener stationärer und mobiler Endgeräte, die mittels der Kombination von GIS- und GPS-Daten Internetnutzung umfassend georeferenzieren. Die Entwicklung und Expansion der digitalen Datenerfassung, von GIS, GPS und insbesondere „Geoweb“ hat nicht nur die Quantität und Qualität räumlicher Daten grundlegend verändert, weil mehr oder minder jede Nutzung des Internets mit jedem Gerät (auch) georeferenzierte Datenspuren hinterlässt, sondern auch die Produktion von Karten in mindestens zweifacher Weise. Einerseits ist die Karte nun nicht mehr das (End-)Produkt eines komplexen, allein von geschulten Experten kuratierten Prozesses, sondern häufig eine Visualisierungstechnik für manuell oder algorithmisch filtrierte und bearbeitete Daten. Auf der anderen Seite haben mit der Entwicklung und gesellschaftlichen Verbreitung digitaler Medien beispielsweise ökonomische und zivilgesellschaftliche Akteure die Möglichkeit, Karten zu erstellen. Die Arbeit des Kartographen, inklusive der Machtfrage, ist heute sowohl von kartographischen Laien leistbar oder läuft größtenteils automatisiert ab – und steht in den Diensten eines privatwirtschaftlichen Megakonzerns aus dem Silicon Valley.

Auch das Produkt, die digitale Karte oder App ist ein ganz anderes: Mittelpunkt der Karte ist der Standort des Endgeräts; Skalierung, Maßstab, Informationen lassen sich individuell filtern, editieren oder hinzufügen; der kartographierte Raum endet nicht mehr am Rand des bedruckten Papiers – und das leidige Falten, Drehen und Orientieren auf dem Beifahrersitz ist allenfalls noch eine Erinnerung.

Daten, Überwachungskapitalismus und Google Maps

Die Entwicklungsgeschichten der heutigen Tech-Giganten hat schon so einige popkulturelle Aufwertungen erfahren – seien es Verfilmungen der Gründungsgeschichten von Facebook (u.a. „The Social Network“) oder jüngst auch Google Earth („The Billion Dollar Code“), seien es die medial inszenierten Weltraumabenteuer von Milliardären wie Amazon Gründer Jeff Bezzos. Während die Inszenierung der eigenen Marke und die Mythenbildung um das jeweilige Genie keine Grenzen kennt, ist es um die Transparenz und Offenheit bezüglich Geschäfts- und Nutzungszahlen, Datenerhebungs-, Datenfilterungs- und Datenverkaufspraktiken nicht gut bestellt (lassen wir kurze Spotlights wie Cambridge Analytica 2018 oder das Auslesen privater Daten durch die Autos von Google Streeview zwischen 2008 und 2010 mal außen vor).

Was wir wissen ist, dass die ursprüngliche Idee des Internets als freiem Kommunikationsraum ohne Schranken und ohne Diskriminierung sich nicht in Reinform realisiert hat. Für die Idee von Google lässt sich dies am allerbesten anhand der Vorstellungen von Larry Page und Sergey Brin selbst zeigen. Als Standford-Doktoranden veröffentlichten Sie 1998 erstmals ihre Idee einer Suchmaschine für Informationen im Internet und verpflichteten diese u.a. auf absolute Werbefreiheit, „qualitativ hochwertige“ Suchergebnisse und einer dezidiert nicht kommerziellen Orientierung (Wer selber lesen mag: Brin & Page über eine Suchmaschine namens Google im Jahr 1998). Als das Unternehmen 2002 kurz vor dem Bankrott stand, gaben sie diesen Weg auf und entwickelten sich schließlich, zusammen mit Facebook, zu dem Protagonisten des Überwachungskapitalismus schlechthin.

Was ist Überwachungskapitalismus?

Überwachungskapitalismus ist ein Begriff, den die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff (ehemals Harvard Business School) geprägt hat. In ihrem gleichnamigen Buch (in Deutschland 2019 erschienen) rekonstruiert sie die Praktiken der Tech-Unternehmen, deren datenbasierte Wertschöpfung und Profitmaximierungsstrategien. Das Prinzip ist, grob vereinfacht, folgendes: Es werden zunächst kostenlose Dienste (z.B. eine Suchmaschine oder ein soziales Netzwerk) angeboten, die für möglichst viele Menschen, Unternehmen, Staaten interessant sind. Dier Masse macht es hier gleich in doppelter Hinsicht: Für die Nutzer*innen die Plattform oder des Netzwerks steigt der Wert, je mehr mitmachen (Netzwerkeffekt). Das Unternehmen wiederum kann sein Produkt oder seinen Dienst mit Hilfe von Nutzungsdaten (den bewusst gegebenen wie Namen, Adressen und hochgeladenen Inhalten sowie den unbewusst gegebenen wie Standort, Nutzungszeiten, Klicks, vorangegangene und folgende Seitenbesuche) verbessern. Ab einer gewissen Größe ist es dann weder für die Nutzer*innen sinnvoll die Plattform, das Netzwerk oder das technische System nochmal zu wechseln (switching costs), noch ist es für andere potentielle Anbieter sinnvoll in den quasi monopolisierten Markt einzutreten. The winner takes it all.

Mit diesem Nutzungs-Innovations-Zyklus ist das Werbesystem verbunden, durch das die heutigen Unsummen akquiriert werden. In diesem zweiten Kreislauf werden die angefallenen Daten genutzt, um Profile zu erstellen, um Verhalten möglichst exakt vorherzusagen oder es gezielt zu beeinflussen („nudging“). Hierbei geht es nicht um knallige Farben, einprägsame Slogans oder prominente Gesichter, die uns von irgendetwas überzeugen sollen. Es geht darum die von Dritten gewünschte Botschaft an die richtigen Personen zur passenden Zeit am passenden Ort zu bringen, ein System von Auswahlmöglichkeiten (Stichwort: Filterblase) anzubieten, bei dem das Ergebnis – so lange wir so handeln wie wir es bisher immer getan haben – mehr oder weniger vorherbestimmt ist. (Wer es etwas technischer mag: Das eingetragene Patent “Selection and Presentation of Related Social Networking System Content and Advertisements”) Wie genau das alles funktioniert, wie effizient das ist und wer eigentlich alles davon profitiert ist ein wohl gehütetes Geheimnis. Völlig klar ist nur, dass die oberste Maxime des Handelns in der Profitmaximierung besteht und sich folglich alle Entscheidungen (z.B. über Zugang und Sperrung von Informationen in diktatorischen Regimen), die Architektur technischer Systeme und die Regeln algorithmischer Filterung (z.B. in Bezug auf die Verbreitung inszenierter Körperbilder und Ideale unter Heranwachsenden oder Fake News unter Anhänger*innen amerikanischer Prädident*innen) von dieser ableiten. Die Whistleblowerin Frances Haugen hat diese Praktiken zuletzt für den anderen großen Player des Überwachungskapitalismus, Facebook, offengelegt.

Google Maps ist ein Premiumprodukt dieser Art von Kapitalismus. Nach der unternehmenspolitischen Neuausrichtung von Google im Jahr 2002, d.h. der Abkehr von den selbst formulierten Prinzipien wie Werbefreiheit und der schnellen Identifikation hochwertigen Wissens, kaufte Google 2004 Schlüsseltechnologien samt Wissen und Akteuren im Bereich der digitalen Kartenproduktion ein, insbesondere die Startups „Where2Technologies“, „Keyhole“, „ZipDash“ und Einstellung deren CEOs Brian McCendon, Lars and Jens Rasmussen, Mark Grady (einen interessanten Zeitungsartikel zu dieser Anfangszeit finden sie hier).

Die Google Map entsteht durch die Erfassung und Zusammenführung unterschiedlichster Datenströme von Akteuren wie Staaten, Unternehmen und natürlich Endnutzern, von stationären Sensoren und proprietärer Software (lizensierte APIs), die Daten von Internetaktivitäten bei anderen Diensten und Webseiten sammelt. Diese werden verarbeitet und in die Basiskarte „Ground Truth“ integriert, wobei die Auswahl, wie eben beschrieben, der überwachungskapitalistischen Werbelogik entspricht. Das heißt die Basiskarte „Ground Truth“ wird mit solchen Informationen bzw. Orten angereichert, die aufgrund zuvor im Internet gesuchter Ziele, Produkte oder Akteure für die/den jeweiligen Nutzer*in mit hoher Wahrscheinlichkeit interessant sind, d.h. insbesondere mit Kaufhandlungen verbunden sind. Die enge Verbindung von Google Maps mit der Infrastruktur des kommerziellen Internets zeigt sich darüber hinaus durch die Verlinkung der Karteninhalte bzw. der Orte mit weiterführenden Informationen (z.B. Homepages, Bewertungen, Fotos). Die Stadtkarte von Google Maps ist so gesehen immer auch zugleich eine Werbeplattform, d.h. die Karten der Stadt privilegieren jene Inhalte, Orte, Informationen, die bezogen auf das bisherige Verhalten der jeweiligen Nutzer*in am ehesten zu Kaufhandlungen führen.

Aufgrund der Abhängigkeit von Standort, individuellem Zoom, verarbeiteten digitalen Nutzungsdaten, Verfügbarkeit und Aktualität lokaler Daten, gibt es zudem keine einheitliche für jede(n) gleiche Karte – was eine Analyse natürlich deutlich verkompliziert. Offensichtlich ist, dass ökonomische Inhalte im Vergleich zu klassischen Stadtkarten einen hohen Stellenwert haben: Die Signaturen für Einzelhändler, Restaurants oder touristische Sehenswürdigkeiten variieren in der Farbgebung, nicht in der Größe – in Innenstädten sind also z.B. die Signaturen von Fast Food Läden ebenso groß wie jene von Marktplatz, Rathaus oder Dom. Zudem sind die Kategorien des standortbezogenen „Entdeckens“ in der Mehrheit mit Konsumakten verbunden (z.B. Restaurants, Clubs, Shows, Einkaufen), wobei neben dem Ort offensichtlich auch Tageszeit und Bewertungen von Produkten und Dienstleistungen miteinfließen.