„… ja, es gibt sie noch, diese ‚Dinosaurier‘ in der staatlich finanzierten Baulandschaft, die Bibliotheken, denen in Zeiten von Digitalisierung und Internet schon länger der Untergang prognostiziert wird. In der Vergangenheit des Gutenberg-Zeitalters haben Materialisierung und Logistik gedruckter Bücher und Zeitschriften diese Architekturriesen gerechtfertigt. Aber heute reden wir von den Computer-Clouds, die zur permanenten Entmaterialisierung der Medien beitragen, was nicht nur die Notwendigkeit von Bibliotheksgebäuden, sondern darüber hinaus die Berechtigung bibliothekarischer Einrichtungen generell in Frage stellt“ (Degkwitz, 2014)
2021 sind Bibliotheken weder untergegangen, noch Computer-Clouds entmaterialisiert. Dass sich Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten aber stark verändert haben, steht außer Frage. Insbesondere in den letzten 25 Jahren, d.h. seit der Kommerzialisierung des Internets und der Verbreitung des Personal Computers, werden Bibliotheken anders gebaut, besprochen und genutzt.
Weil Wissen nicht mehr (nur) über gedruckte Bücher, sondern quasi jederzeit verfügbar ist, haben Bibliotheken ihr Monopol als Wissensspeicher verloren. Ein digitales Angebot, die sogenannte Onleihe betitelt, ist mittlerweile fester Bestandteil jeder Bibliothek. Aber auch die Architektur von Bibliotheken, die Bedeutungen, die ihnen zugeschrieben werden und die Nutzung sind heute anders beschaffen als noch vor 25 Jahren. Wie genau sieht dieser Wandel aber aus? In welchem Zusammenhang steht er mit Digitalisierung? Und was lässt sich daraus möglicherweise über das Phänomen Digitalisierung schlussfolgern? Das Teilprojekt „Bibliotheken im Zeitalter der Digitalisierung“ geht diesen Fragen nach.
Digitalisierung spielt in Bibliotheken auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine Rolle. Neben konkreten Anwendungen und Geräten (wie der Onleihe und Kassen- oder Ausleih- und Rückgabeautomaten) beeinflussen Digitalisierungsprozesse auch die Art und Weise, wie Gebäude insgesamt entworfen, konzipiert und gebaut werden. Indirekt beeinflussen sie aber auch die Gestalt der Architektur, die Art und Weise wie Gebäude aussehen, mit welchen Bedeutungen sie aufgeladen sind und mit welchen Nutzungen sie einhergehen.
Insbesondere nach 2001 lässt sich – im Zuge von Digitalisierungsprozessen – ein starker „Bauboom“ spektakulärer Neubauten für Bibliotheken beobachten. Die Mediathek in Sendai von Toyo Ito, die Public Library in Seattle von OMA oder die DOKK1 in Aarhus sind nur einige Beispiele aufsehenerregender Bibliotheksneubauten, in denen die Bedeutung, Architektur und Nutzung von Bibliotheken neu gefasst worden ist. Neben diesen spektakulären Projekten zeigen sich die Folgen von Digitalisierung aber auch – wenn auch subtiler – in Bestandsbauten. An der Amerika Gedenk Bibliothek (kurz: AGB) in Berlin lässt sich das beispielhaft nachvollziehen.
Auf den ersten Blick sieht die Amerika Gedenk Bibliothek zwar noch fast genauso aus, wie bei ihrer Einweihung im Jahr 1954, im Inneren des Gebäudes finden sich dagegen zahlreiche Elemente, die sich in den letzten Jahren deutlich verändert haben. Am Beispiel der AGB kann so auch nachvollzogen werden, welche Aspekte von Architektur als einem Untersuchungsgegenstand der Soziologie interessant sein können und auf welche Art und Weise sich diese untersuchen und ausdeuten lassen.
Die Amerika Gedenk Bibliothek (AGB) ist seit ihrer Eröffnung in den 1950er Jahren eine der größten Bibliotheken Berlins. 1952-54 in Zusammenarbeit der deutschen und amerikanischen Architekten Fritz Bornemann, Gerhard Jobst, Willy Kreuer und Hartmut Wille errichtet, wurde sie am 20. September 1954 eröffnet. Die Finanzierung erfolgte durch die Vereinigten Staaten aus Mitteln des Marshall-Plans.
In Beschreibungen der Amerika Gedenk Bibliothek wird diese weitestgehend kanonisiert „als Symbol der Bildungs- und Meinungsfreiheit“ ausgewiesen. Diesen Anspruch erfülle die AGB, so z.B. das Landesdenkmalamt Berlin, „nicht nur durch ihre moderne Architektursprache als Beispiel ‚demokratischer‘ Architektur des Westens mit ihrem transparenten Eingangsbereich und dem offenen Lesesaal, sondern vor allem auch durch das neue Bibliothekskonzept, das dem amerikanischen Modell der Public Library folgt und der Öffentlichkeit den Zugang zu Literatur und Medien unkompliziert ermöglicht“.
Diese Rahmung von Architektur als einem Symbol für Bildungs- und Meinungsfreiheit ist eine ganz typische Beschreibung von Architektur. Historisch betrachtet, hat Architektur allerdings nie eine Bedeutung an sich. Dass der gläserne Eingangsbereich der Bibliothek der Amerika Gedenk Bibliothek z.B. ‚Transparenz‘ und ‚Offenheit‘ bedeutet, ist (genau wie die Gestalt der Architektur) etwas, das sich im steten Wandel befindet. Die Vorstellung, demokratische Ideale in der Architektur unmittelbar zum Ausdruck bringen zu können, durch ‚Transparenz‘ und ‚Offenheit‘, durch Verzicht auf ‚Monumentalität‘ und ‚hierarchische‘ Bauformen, sind zwar etwas, das regelmäßig von Architekt:innen intendiert und bedient wird, aus soziologischer Sicht aber zu differenzieren ist. Denn die Signalwirkung und Wahrnehmung von Architektur hängt von selbstverständlich auch von (der sozialen Position der) Betrachter:in ab, auch vom jeweiligen zeithistorischen Kontext. Galt die rechteckige Form der AGB einst z.B. als besonders modernes Merkmal (weil die Bibliothek damit eine Flexibilität zur einfachen Erweiterung ihrer Architektur aufwies), sind es heute meist nicht-rechteckige, organische Formen, die vonseiten von Architekt:innen, Bibliothekar:innen und Architekturkritiker:innen als besonders modern empfunden und bewertet werden.
Welche Architektur als transparent, offen oder modern, welche als überholt, unfunktional oder veraltet bewertet wird, unterliegt also genauso einem Wandel, wie die Architektur selbst. Die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen sagen dabei mitunter viel aus, z.B. darüber, welche Ideale und Werte in einer Gesellschaft (zumindest von einem bestimmten Teil ihrer Mitglieder) als erstrebenswert angesehen werden und welche nicht, aber auch welche Konflikte sich dabei abzeichnen.
Die sich wandelnden Bedeutungszuschreibungen zu Architektur zu untersuchen, ist deshalb ein interessanter Gegenstandsbereich für die Soziologie. Und auch hier zeigen sich bestimmte „Digitalisierungs-Effekte“. Ein Baustein des Teilprojekts ist deshalb eine Diskursanalyse zum Wandel dieser Bedeutungszuschreibungen.
Durch den historischen Vergleich von Handbüchern und Architekturzeitschriften zum Bibliotheksbau zeigt sich z.B., wie sich die Funktion von Bibliotheken und damit auch ihre Bedeutung verändert.
Information, so Fritz Moser in der Architekturzeitschrift „Bauwelt“ 1955 sei „nicht nur die Vorstufe zu Wissenschaft und Bildung, sondern auch praktische Lebenshilfe und ein Bedürfnis breiterer Kreise“. Der „leichte Zugang zur ‚Substanz‘ des Buchbestandes“ sei deshalb ein Gesichtspunkt der Planung der AGB, auf den besonderer Wert gelegt worden sei und der von Moser als besonders gelungen ausgewiesen wird. Um den Zugang zu den Büchern „so bequem und einfach wie möglich zu machen“, wurden „alle Benutzerräume im Erdgeschoss vereinigt und der ‚entmutigende‘ Zutritt über Treppen in höhere Stickwerke vermieden“.
Geht es im Bibliotheksbau lange Zeit darum, mehr Platz (für die scheinbar unendlich anwachsende Anzahl von Büchern und Zeitschriften) zu schaffen, geht es in der Nachkriegszeit zuvorderst darum, mehr Zugang zu den vorhandenen Medien zu schaffen. Systeme allgemein zugänglicher Buchbestände (Freihandbücherei) lösen das System der geschlossenen Magazine (Thekenbücherei) ab. Die Amerika Gedenk Bibliothek ist damals eine der ersten großen Freihandbibliotheken in Deutschland.
Um den Zugang zu den Büchern „so bequem und einfach wie möglich zu machen“, wurden „alle Benutzerräume im Erdgeschoss vereinigt und der ‚entmutigende‘ Zutritt über Treppen in höhere Stickwerke vermieden“. Die Freihandbibliotheken mit allgemein zugänglichen Buchbeständen das alte System der geschlossenen Magazine ab. Die Schranken zwischen Menschen und Büchern sollen beseitigt werden, „kein Gefühl der Steifheit oder Fremdheit soll zwischen ihnen stehen“.
Die Raum- und Zugangsfrage ist in Bibliotheken bis heute relevant. Noch immer stellt sich die Frage, wie Bücher und andere Medien untergebracht werden sollen und wie diese Medien schließlich zu den Nutzer:innen gelangen.
Mit der Kommerzialisierung des Internets Mitte der 1990er tritt allerdings ein weiterer Gesichtspunkt hinzu: Der Zugang zu Technik. Denn während Bücher nur aufgeschlagen werden müssen, um gelesen werden zu können, erfordert der Zugang zu Information im Internet einen Intermediär in der Form bestimmter Hardware. Konkret ist dies zunächst ein Computer, den sich zu dieser Zeit nur wenige leisten können. In diesem Zuge wird der Bibliothek eine weitere Funktion zugeschrieben. In der Amerika Gedenk Bibliothek gibt es (inspiriert von den US-amerikanischen Public Libraries) zwar bereits seit den 1950ern Technik, um Medien abzuspielen (z.B. Plattenspieler), aber erst durch die Integration von Computerarbeitsplätzen verändert sich die Bibliothek ganz grundlegend auch in ihrer Bedeutung und Architektur.
Mittlerweile verfügt ein Großteil der Menschen über die notwendige Hardware, um das Internet nutzen zu können. Dieses bedeutet längst nicht mehr nur den Zugang zu Information, sondern ist auch zur grundlegenden Infrastruktur für sämtliche anderen Kommunikationsprozesse geworden. Mit dem Aufkommen von Smartphones (insbesondere dem ersten iPhone im Jahr 2007) ist dieses schließlich nicht mehr an einen konkreten Ort gebunden, sondern quasi jederzeit verfügbar. Die Bibliothek muss deshalb durch Qualitäten aufwarten, die nicht zuhause und nicht an anderen Orten zu finden sind. Der Architektur von Bibliotheken kommt in diesem Zuge eine starke Aufwertung zu. Gefragt ist zunehmend der tatsächliche Ort der Bibliothek, der – laut Bibliothekar:innen und Architekt:innen – Qualitäten aufweisen soll, die häufig auch als „Aufenthaltsqualität“ beschrieben werden. Typisch ist jetzt die Beschreibung der Bibliothek als „öffentlichem Wohnzimmer“.
Neben den Bedeutungsverschiebungen in der Funktion Bibliotheken, verändert sich aber auch Architektur in Bibliotheken. Bei Neubauten sind diese Veränderungen evident, aber auch in Bestandsbauten werden immer wieder Elemente baulich angepasst oder ersetzt. Die Hülle des mittlerweile denkmalgeschützten Baus aus den 1950er Jahren sieht von außen zwar noch fast genauso aus, wie nach der Einweihung im Jahr 1954, im Inneren der Bibliothek haben sich hingegen viele Elemente verändert.
Eines dieser Elemente ist die Servicetheke der Bibliothek, die nach der Umbauphase zwischen 2013 und 2014 groß, aber offen direkt hinter dem Eingang als Orientierungspunkt eingerichtet worden ist. Auch der Freihandbereich der AGB ist im Zusammenhang mit diesen Umbauarbeiten neu zoniert und um den zentralen Tresen herum angeordnet worden.
Der Umbau der Servicetheke lässt sich auch als Ausdruck eines veränderten Verhältnisses zwischen Bibliothekar:innen und Nutzer:innen lesen, das sich ebenfalls auf Digitalisierungsprozesse (insbesondere die Einführung eines Online Katalogs, über den Nutzer:innen eigenständig auf den Bibliotheksbestand zugreifen können) zurückführen lässt und welches sich gleichermaßen an der Architektur ablesen lässt, wie es auch auf die Architektur zurückwirkt.
Eine solche Veränderung des Beratungstresen ist kein Einzelfall, sondern ein architektonischer Eingriff, der in ähnlicher Art und Weise zu dieser Zeit auch in vielen anderen Bibliotheken stattgefunden hat. Auch bei Umbauten handelt es sich also nicht (nur) um das Ergebnis des „persönlichen Geschmacks“ einzelner Architekt:innen oder Wünsche von Bibliothekar:innen, sondern um allgemeinere „strukturelle“ Veränderungen.
Das Gleiche gilt für den vermehrten Einzug von Cafés in Bibliotheken. In der AGB findet sich seit dem Umbau 2014 zwischen Salon und Freihandbereich eine Cafébar integriert, die während der Öffnungszeiten ein Angebot an Getränken und Snacks bereithält und das vormals strikte Verbot von Speisen und Getränken in Bibliotheken, also die Trennung zwischen Essen und Trinken und den „heiligen“ Büchern in weiten Teilen aufhebt.
Gleichzeitig ist Architektur in der Praxis nicht statisch. Erst in der Nutzung kommt ihr der Sinn zu, den viele Architektursoziolog:innen ihr zuschreiben: Als Einflussfaktor von Handlungen bzw. Praktiken. Wieviel Einfluss Architektur dabei tatsächlich hat, ist unklar und Thema vieler Debatten. Konsens besteht hingegen darüber, dass Architektur das Leben von Menschen auf irgendeine Art und Weise beeinflusst. Darüber, dass Laufwege vorgegeben, Interaktionsprozesse kanalisiert und bestimmte Nutzungen angeregt und andere erschwert werden. Bequeme Sofas, auf denen mehrere Personen Platz finden z.B., weisen demnach einen anderen Angebotscharakter auf als harte Bürostühle, auf denen nur eine Person sitzen kann. Auch in diesem Fall zeitigt Architektur nie eine Wirkung an sich, die sich einfach ablesen lässt, sondern entfaltet diese in spezifischer Weise in der Praxis mit den Menschen, die sie sich aneignen und nutzen. Ein dritter Baustein des Teilprojekts ist deshalb eine Analyse der Nutzungen bzw. Praktiken, die sich in Bibliotheken beobachten lassen (und deren Wandel sich im Vergleich zu historischen Nutzungsordnungen und anderen Quellen z.B. rekonstruieren lässt).
Praktiken sind abhängig von und verknüpft mit der Architektur, aber auch zeitlichen Rhythmen und Ge- und Verboten, wie z.B. Öffnungszeiten.
Die Praktiken, die sich beobachten lassen, können sich dabei mitunter sehr schnell verändern. In der Folge von Corona haben sich Architektur und Nutzung innerhalb kürzester Zeit gewandelt. Die öffentlichen Toiletten vor der Amerika Gedenk Bibliothek – 2019 noch ein häufig frequentierter Ort wohnungsloser Menschen – sind gewichen. Neu hinzugekommen sind im zweiten Corona Sommer auf beiden Seiten des Eingangs der Bibliothek Sonnensegel, unter denen sich Besucher:innen auch draußen aufhalten, arbeiten, lesen können. Die Grenzen dessen, was eine Bibliothek ist und was nicht, welche Bedeutung ihr zugeschrieben wird, ihre Architektur und die Praktiken, die sie konstituieren befinden sich also fortlaufend im Wandel.